Wird die Welt zunehmend enthemmt – oder werde
ich alt?
In der letzten Zeit frage ich mich öfters, ob ich wohl einfach alt werde. Und ob dies möglicherweise mein Gefühl erklärt, wonach sich Vieles für mich enthemmter und schwieriger anfühlt als noch vor wenigen Jahren. Ob es vielleicht an mir liegt, wenn ich mich zum Beispiel über die zahlreichen E-Roller ärgere, die im hohen Tempo auf dem Bürgersteig an mir vorbeibrausen und mich zu Hause hektisch meine Unfallversicherung überprüfen lassen. Oder über die ständige Game-, Musik- oder Videogesprächsberieselung, die meine Nerven in den Öffis arg strapaziert. Bereits die alten Griechen wussten ja, dass es mit den Manieren der Jugendlichen nicht weit her war, angeblich im Vergleich zu früher. Vielleicht werde ich also tatsächlich einfach alt.
Allerdings bezieht sich mein Gefühl nicht nur auf die Grenzen auslotende Jugend, sondern auch auf g
estandene Erwachsene bis hin zu weißhaarigen Exemplaren der menschlichen Spezies. Und höre ich mich in meinem Umfeld um, so scheint es anderen genauso zu gehen wie mir. Dass viele sich wundern über eine zunehmend fehlende Rücksichtnahme und mangelnden grundlegenden Anstand. Und dass uns allgemein die Empathie mit dem anderen, also ein Einfühlen in dessen Situation und Bedürfnisse, abhanden zu kommen scheint.
Täter-Opfer-Umkehr (in bester Gesellschaft)
Besonders interessant wird es, wenn es zu einer Täter-Opfer-Umkehr kommt. Wenn also die Person, die im Supermarkt dabei ertappt wird, sich aus anderen Packungen die größten Eier herauszupicken, das eigene Handeln nicht nur für völlig normal hält – sondern dazu noch ihr Gegenüber, welches sich darüber irritiert zeigt, als übergriffig beschimpft. Wobei es derzeit auf der Weltbühne ja besonders illustrative Beispiele für ungestrafte Enthemmtheit gibt, die sicherlich die eine oder den anderen zur Nachahmung ermutigen. Wenn doch andere ständig über die Stränge schlagen, wieso sollte man sich selber noch Beherrschung auferlegen?
Der persönliche Maulkorb …
An dieser Stelle
komme ich dann vollends ins Grübeln. Soll ich mich in meinem Alltag weiterhin der einen oder anderen Regelüberschreitung entgegenstellen? Oder sollte ich besser darauf verzichten, um des lieben Friedens willen – oder weil es mich tatsächlich einfach nix angeht? Manche meiner Freundinnen und Freunde haben sich eine allgemeine Enthaltsamkeit auferlegt, was das öffentliche Einmischen anbelangt. Und sicherlich erspart man sich damit kurzfristig einige graue Haare. Was aber macht es mit uns persönlich, mit unseren Mitmenschen und mit unserer Gesellschaft, wenn wir alle nur noch wegschauen? Wenn wir der Meinung sind, das alles sei nicht unsere Sache?
Unsere Gesellschaft lebt von Regeln – geschriebenen und ungeschriebenen
Einerseits beruht unser Zusammenleben auf mehr oder minder klaren Regeln, die in der Verfassung und in untergeordnetem Recht festgehalten werden und die wir uns als Gesellschaft gemeinsam gegeben haben. Diese Regeln werden von unseren Institutionen durchgesetzt, nötigenfalls auch via hoheitliche Staatsgewalt. Somit könnte man sich als Otto Normalbürger*in innerlich aus dem Staub machen, so nach dem Motto, die da oben werden es
schon richten. Sie und ich wissen jedoch, dass es mit diesem rechtlichen Korsett nicht getan ist. Mindestens so wichtig sind die ungeschriebenen Regeln. Diejenigen gesellschaftlichen Normen also, die dazu beitragen, dass wir unserer kranken Nachbarin den Einkauf besorgen oder dem Zeitungsboten zum Jahresende ein Trinkgeld zustecken. Denn was wären wir ohne unseren Zusammenhalt? Ohne die gegenseitige Rücksichtnahme und Unterstützung, die eine menschliche Gesellschaft überhaupt erst ausmachen? Wir sind alle miteinander verbunden und auf einander angewiesen und dies oft mehr, als uns lieb ist.
Der grundlegende gesellschaftliche Konsens
Dazu kommt aber noch ein weiterer Punkt, der aus meiner Sicht ganz zentral ist: Die gesetzlichen Regeln, von denen weiter oben die Rede war, wollen nicht nur geschrieben, sondern auch respektiert und befolgt werden – zumindest mehrheitlich. Aber ohne grundlegende Einigkeit dazu, dass wir un
s an Vorgaben halten, auch wenn diese uns vielleicht im Einzelfall nicht passen, und dass wir unseren Institutionen Respekt entgegenbringen, sind solche Regeln nicht mehr als Schall und Rauch. Erst der unausgesprochene Konsens einer Gesellschaft, Uneinigkeiten anders als mittels Gewalt zu lösen, kann dazu führen, was wir heute als Demokratie genießen dürfen. Dies wiederum bedingt, dass wir Grenzen respektieren. Dass wir nicht denken, wir könnten und dürften einfach tun und lassen, was wir wollen.
Was Hänschen nicht lernt …
Kürzlich hatte ich eine Begegn
ung mit einem jungen Elternpaar, das nicht nur der Meinung war, bestimmte Grenzen von Recht und Anstand seien völlig unwichtig. Sondern die Eltern signalisierten, dass sie auch ihren Kindern die Übertretung dieser Regeln ermöglichen würden, so dies denn ihre Kinder glücklich machen würde. Ob diese jungen Eltern selber als Kinder keine Grenzen erleben durften, oder ob sie mit einem allfälligen Quengeln ihres Nachwuchses überfordert sind? Ich weiß es nicht.
Damit kommen wir aber wieder zum Kern meines Themas zurück. Denn in dem Ausmaß, in dem unsere Kin
der heute lernen, dass es für sie keine Grenzen gibt, in dem Ausmaß wird es ihnen morgen als Erwachsene voraussichtlich an Einsicht, Respekt und Empathie mangeln. Und zwar möglicherweise nicht nur gegenüber den Regeln des Lehrers oder den Bedürfnissen der gehbehinderten Oma. Sondern möglicherweise auch dazu, dass wir alle durch unser Verhalten auch staats- und demokratietragend sind. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht – aber ich selber möchte nicht in einer Welt leben, in der wir uns darüber nicht mehr einig sind. Ganz abgesehen davon, dass unsere Kinder selber Grenzen brauchen – für ihr Wohlbefinden und für ihre gesunde Entwicklung.
Durch die Brille der Systemik betrachtet
Trotzdem: Die Frag
e, die mich umtreibt – nämlich ob es in einer offenen Gesellschaft sinnvoll, wichtig oder sogar richtig ist, andere auf Regeln und Grenzen hinzuweisen – , habe ich damit noch nicht beantwortet. Weder für mich noch für Sie. Denn ich spreche ja hier nicht nur von Kindern und Jugendlichen, die sich noch in der Persönlichkeitsentwicklung befinden, sondern auch von Erwachsenen. Der systemische Blickwinkel besagt unter anderem, dass wir uns nicht in einem luftleeren Raum befinden. Alles ist miteinander verbunden, alles kann Ursache und Wirkung zugleich sein. Das gilt für die Eltern in meinem obigen Beispiel, gilt aber genauso für uns alle bei der Arbeit, im Privaten oder in unserem gesellschaftlichen Handeln. Ob ich also nun wegschaue oder mich „einmische“: Alles hat eine Wirkung und zieht seine Kreise, so wie ein ins Wasser geworfener Kieselstein.
Wo ein Coaching helfen kann
Was hat das alles nun mit systemischem Coaching / Beratung und systemischer Therapie zu tun? Jedes System hat seine innere Logik und ist aufeinander abgestimmt, inklusive möglicherweise störendes Verhalten. Fehlen in einem Bereich bestimmte Grenzen, so werden diese allenfalls implizite eingefordert. Wenn der Wunsch besteht, in einem System etwas zu ändern, so reicht je nachdem also bereits eine kleine Änderung im eigenen Einflussbereich. Und vielleicht sind wir ja unzufrieden damit oder unsicher, wie wir uns in einer bestimmten Situation „besser“, anders verhalten können, um zu einem gewünschten Resultat beizusteuern. Dies zu reflektieren kann wiederum das Ziel eines persönlichen Coachings sein.
Übrigens: Falls Sie sich nun fragen, ob ich mich auch künftig einbringen werde, wenn mir etwas im öffentlichen Raum sauer aufstößt: Mein eigener Reflexionsprozess dazu ist noch im Gange. Jedes Mal wieder neu und anders. Aber das macht es ja auch spannend, nicht wahr?
Herzlichst Ihre Simone Gysel