Vom Umgang mit Fehlern und Triggerpunkten
Unliebsame Gäste …
Immer wieder begegnet mir bei meinen Coachings insbesondere mit jungen Menschen die Vorstellung, irgendwann sei der höchste Berg erklommen. Irgendwann wisse man dann „alles“ und habe sein Leben voll im Griff. Ab diesem Punkt sollten alle offenen Lebens- und Berufsfragen geklärt und die spürbar schmerzhaften eigenen Schwächen ausgebügelt bzw. ausgewachsen sein. Und dies bevorzugt mit so ungefähr anfangs 30, um für Haus und Kinder und Karriere bestens gerüstet zu sein.![]()
Auch in meinem Leben gab es eine Zeit, in der ich dachte, wenn ich mich nur genügend abmühen würde, dann sei endlich alles geordnet und geklärt. Über jeglichem Tun und Sein hing die Messlatte der Makellosigkeit, der Perfektion, und die Idee, dass eigene „Themen“ und Schwächen mich disqualifizieren würden. Und zwar nicht nur für eine Tätigkeit im psychologisch-beratenden Kontext, sondern überhaupt. Erst dann nämlich, wenn man sich „fertig“ entwickelt und ausgelernt habe, sei man am Ziel angekommen. Und erst dann dürfe man sich überhaupt anmaßen, etwas vom Gelernten nach außen zu tragen und sich als fachkompetente Lehrerin / Juristin / Modedesignerin oder was auch immer zu fühlen.
Kommt Ihnen dies vielleicht bekannt vor? Wenn ja, dann würde mich dies nicht wundern. Denn Schwächen, Fehler und Verletzlichkeit sind in unserer auf Leistung, Stärke und Perfektion getrimmten Gesellschaft ungern gesehene Gäste. Und so tendieren wir oft dazu, solche Anteile und Ereignisse, die scheinbar weniger genehm sind, ins äußere und innere Hinterstübchen zu verbannen. Dies hat nicht nur Folgen für uns persönlich, sondern verleitet auch zur gegenseitigen Annahme, die oder der andere habe die Dinge viel mehr im Griff als man selber – also zu einer sogenannt verzerrten Wahrnehmung.
… oder unsere besten Freunde?
Mit zunehmenden Alter stelle ich allerdings fest, dass gewisse eigene belastende Erfahrungen und Fragestellungen gerade in der Tätigkeit als Coach/Beraterin möglicherweise nicht nur nicht hinderlich, sondern vielleicht sogar besonders hilfreich sein können. Das bringt es zum Beispiel mit sich, dass man oder frau, nebst der vertieften Beschäftigung mit bestimmten Themen, sich wahrhaftig in die verzweifelte Not seines Gegenübers einfühlen kann. Dass man aus vollstem Herzen sagen kann, „Sie sind damit nicht allein“. Und wie man aus der Forschung weiß, kann bereits das Gefühl der Verbundenheit mit anderen zu einer gewissen Erleichterung und Entlastung führen.
Persönliche Erfahrungen und die eigene Unvollkommenheit als Mutmacher
So kann es manchmal auch im beratenden Setting hilfreich sein, Eigenes zu teilen – nicht um aus egoistischen Motiven die persönliche Geschichte auszubreiten, sondern um Mut zu machen. Mut zu machen, dass bestimmte Hürden genommen werden können, auch wenn es sich vielleicht im Moment unmöglich anfühlt.![]()
Kürzlich hatte ich eine private Begegnung, die mich selber einfach nur sprachlosund verdattert neben mich stehend zurückließ. Da wurde mir wieder einmal voll bewusst, wie unfertig und unvollkommen wir doch alle sind. Und wie es auch jemanden, die andere mittels Sachverstand zu unterstützen anstrebt, in der vollen Breitseite erwischen kann. So ist auch meine eigene Auseinandersetzung mit den persönlichen Triggerpunkten nie zu Ende, und ich übe jeden Tag wieder von Neuem.
Fehler und Triggerpunkte – Ausdruck unserer tiefsten Menschlichkeit
Aber auch das darf sein – das habe ich mir gesagt, und das sage ich auch hier ganz bewusst. Denn wir alle haben unsere wunden Punkte, unsere Trigger. Wir alle machen Fehler. Wobei der Begriff „wunder Punkt“ an sich entlarvend ist, denn manchmal sind Erlebnisse oder eigene Fehler einfach schmerzhaft. Entscheidend ist vielmehr, wie wir damit umgehen. Und zwar nicht nur nach innen, also gegenüber uns selber – inklusive den kritischen inneren Stimmen, die gerne in solchen Momenten den Kopf hervorrecken und die altbekannten „Weisheiten“ von sich geben möchten. Sondern auch nach außen. Wenn wir nämlich solche Mängel und Fehler auch gegenüber unseren Klientinnen und Klienten offen anerkennen können, dann ist dies – sofern es in der vollen faktischen und emotionalen Verantwortungsübernahme erfolgt – meines Erachtens eine sehr wirksame therapeutische Intervention. Denn wenn sogar die Beraterin oder der Coach Fehler machen, Schwächen haben und diese auch zugeben darf: Warum sollte ich, die Klientin oder der Klient, dies nicht auch dürfen?
Je mehr wir als Lehrerinnen und Lehrer, Dozierende, Ausbildnerinnen und Ausbilder, als Eltern, Freundinnen bzw. Freunde oder auch einfach nur als Passanten auf der Straße zugeben können, dass wir im Unrecht sind, dass wir einen Fehler gemacht haben oder dass wir schlicht etwas nicht wissen: umso mehr können insbesondere unsere Kinder, unsere jungen Heranwachsenden das enge Korsett der Perfektion sprengen. Und vielleicht können sie sich dann eher damit anfreunden, dass wir möglicherweise nie „fertig“ sind und dass stets ein neuer Berg darauf wartet, von uns erklommen zu werden. Genauso wie auch wir alle, die wir durch unser Handeln stets mitentscheiden, in welcher Art von Gesellschaft wir leben und leben möchten.
So wünsche ich uns allen, dass wir gemeinsam immer mehr lernen, zu unseren Schwächen und Fehlern zu stehen. Und dass wir diese nicht als Makel empfinden müssen, sondern als etwas vom Wertvollsten, was wir haben und mit unseren Mitmenschen teilen dürfen: nämlich unsere Menschlichkeit.
Herzlichst, Ihre Simone Gysel